Der "Bruschdschorsch"

Wilhelm Harmann - "Bruschdschorsch"

[Von Peter Noe`, August 2001 - Sohn des Postmeisters Julius Noe` , als Schüler meist mit dem Fahrrad von Ziegelhausen in die Heidelberger Kettengasse unterwegs. Peter Noe hat die Veröffentlichungsrechte an Herrn Wolfgang Vater in Ziegelhausen übergeben mit dessen Zustimmung das Folgende veröffentlicht werden konnte.]

Der königlich—preußische Unteroffizier der Reserve — das war Wilhelm Harmann , und darauf war er stolz als Polizist, den Sommertagszug anführend, vor dem alten Rathaus gegenüber vom "Gasthaus zum Lamm". Hinter den beiden Fenstern links im Bild lag sein Dienstzimmer.

 

Die Ziegelhäuser Amtsgewalt

Die Straße gehörte uns Fahrschülern meist allein; wenigstens glaubten wir dies und verhielten uns dementsprechend. Wir fuhren mit Vorliebe freihändig und noch dazu meist nebeneinander. Das war natürlich auch damals schon verboten. Es gab aber keine Polizei wie heute, zu zweit, Auto mit Sprechfunk. Nein, es gab einen "Polizeidiener", einen Polizisten, der saß auf einem Drahtesel wie wir. 

Anführer beim Sommertagszug
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Es gab einen Ordnungshüter für ganz Ziegelhausen, vom Dorf und der Neckarhelle über die Steinbach bis nach Peterstal. Er aIIein genügte, um alle großen und kleinen Übeltäter in Schach zu halten. Sein Name war Harmann, Wilhelm Harmann. Er hatte jene Statur, die von Natur aus Respekt einflößte, erst recht im Gewande einer Uniform!Warf sich der Harmann dann gar noch in die Brust, was er immer dann tat, wenn er ordnungsgebietend seine tiefe, scharfe Stimme erhob, ließ er gar noch seine klaren, allgegenwärtigen Augen funkeln, ja dann kam es schon vor, daß wir Buben das Aftersausen und Kniezittern bekamen. Dieses Gehabe trug dem Harmann den Namen "Bruschdschorsch " so nannte ihn die Jugend von Ziegelhausen ganz despektierlich und doch zugleich voller Respekt. Sie ließ es gerne darauf ankommen, ja sie machte sich einen Spaß daraus, sich mit ihm anzulegen, setzte sich immer wieder voller Übermut und Mutwillen durch Übertretung von Verboten und Vorschriften der reizvollen Gefahr aus, vom Harmann erwischt zu werden. 

Glatteis in der "Schänamer Chaussee"

So z.B. auch regelmäßig im Winter, wenn Buben und Mädchen in der Schönauer Straße nach dem ersten Schneefall — und dies vor Harmanns Haustür - verbotenerweise Schlitten fuhren und dadurch Fahrbahn und Gehweg glatt machten. Flott flogen da die Schlitten über die Wasserrinnen, die quer und etwas schräg zur Straße verliefen. Wie kleine Skischanzen wirkten sie. Kam dann der Harmann aus dem Dorf von der Wachstube im Rathaus, so verbreitete sich diese Schreckensbotschaft rasch wie ein Lauffeuer bergwärts. Die zu Tal Fahrenden stoppten augenblicklich mit den Fersen ihre Schlitten, rissen sie vorne hoch und türmten mit all jenen, die ihre Schlitten bergwärts zogen über den Schulbergweg in den "Enderichs Deich". Der lag versteckt hinter vornehmen Villen, war schön steil und eignete sich auch vorzüglich zum Schlittenfahren. Ja, er war als Rodelbahn geradezu die absolute Steigerung der "Schänamer Chaussee", nur daß der "Schanzenflug" fehlte und die Abfahrt jeweils viel kürzer war. Doch regelmäßig, spätestens nach einer Viertelstunde, bekam der alte Endrich, ein Landwirt, dem das Wiesengelände gehörte, von der Schlittenfahrerinvasion Wind. Wir erwarteten ihn dann schon, wenn er zwischen dem Obstgarten des Forsthauses auftauchte und unter lautem Geschimpfe dem ach so lustigen Schlittenfahren ein jähes Ende bereitete. Still und des Treibens auch schon müde, fügten wir uns dann und verzogen uns, die kratzenden Schlitten auf dem gestreuten Weg hinter uns herziehend, durchs "Tunell " die "Brechhohl " hinunter ins Dorf. Meist brach dann schon die Abenddämmerung herein, und von der Kirche rief die Betglocke uns Kinder sowieso um diese Zeit von der Straße nach Hause.

Im Anschluß an die Schilderung vom Erscheinungsbild des Bruschtschorschs ließ ich mich unversehens dazu verleiten, das Geschehen um das Schlittenfahren einzuschieben. Doch nun zurück zu jenen Fahrschülern und zu jener denkwürdigen Begegnung mit dem Harmann auf dem Nachhauseweg von der Schule. Unser unablässiges Nebeneinander und Freihändigfahren also war dem Harmann ein Dorn im Auge. Wie oft schon hatte er uns dabei erwischt und verwarnt! Es hatte nicht gefruchtet. Eines Tages wollte er uns wieder einmal überführen. Nichtsahnend gondelten wir wie gewohnt auf unseren Rädern von der Schule nach Hause. am Haarlaß sollte es passieren, da wollte uns der Harmann stellen. Als wir näher kamen, trat er aus der Deckung der Autoeinfahrt hervor und pflanzte sich mitten auf der Fahrbahn auf, um uns zu zwingen anzuhalten. Wie auf Kommando machten wir Viere kehrt und radelten schnurstracks stadteinwärts bis zur

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Gebierenpflischdische Verwarnung

Hirschgasse, überquerten das Stauwehr, um über die Schlierbacher Seite nach Hause zu fahren. Auf der Höhe vom Hausacker schauten wir hinüber zum Haarlaß. Der Harmann stand da noch. Unsere Freude, ihm mal wieder ein Schnippchen geschlagen zu haben, war unbändig. Voller Übermut winkten wir ihm und grüßten ihn lauthals seinem Übernamen : "Hallo, Bruschdschorsch, Bruschdschorsch!“

Dann fuhren wir seelenruhig weiter, vorbei am Jägerhaus und an der Adlerfähre und nichtsahnend über die Ziegelhäuser Brücke. Plötzlich trat der Harmann hinter dem Kiosk der "Braune Marie" hervor, baute sich erneut vor uns auf, hob die Hand und rief mit tiefer, kräftiger Stimme: "Halt, ihr habt mir doch gerufe! " Was folgte, ist inzwischen längst vergessen. Vielleicht mußte jeder uns die damals übliche und von Harmann viel strapazierte "gebierenpflischdische Verwarnung vun oiner Reichsmark" bezahlen. Dieses Verwarnungsgeld hatte man in der Regel sofort zu entrichten, was dann auf einem weißen Blockzettel quittiert wurde, der vergleichsweise das Aussehen eines Omnibusfahrscheins hatte. Wer keine Mark bei sich hatte, mußte sein Strafgeld auf der Wachstube begleichen. Die war ursprünglich noch vom ehemaligen "Gasthaus zum Lamm" im alten Rathaus untergebracht, erst später dann im neuen. Ein Junge erlaubte sich einmal den Spaß und legte dem Harmann lauter Pfennige auf den Tisch. Der war sprachlos, verzog keine Miene, setzte sich schließlich hinter den Tisch und fing an, mit dem Zeigefinger die Pfennige laut zählend mehrmals von einer Seite auf die andere zu schieben. Immer fehlte ein Pfennig zur Mark. Schließlich meinte der Harmann . "Ich konn zehle niwwa, un ich konn zehle riwwa: Es sin un bleiwe noinennoinzisch Penning! " Der fehlende „Penning“ mußte natürlich noch gebracht werden. Ordnung muß sein. Dafür ist man ja schließlich Polizeidiener!

"Kinderschreck"

Mit diesem "Polizeidiener Harmann " - so nannten ihn respektvoll die Erwachsenen-  machte ich schon sehr früh Bekanntschaft. Ich mag gerade vier Jahre alt gewesen sein. Meine Familie wohnte damals in der Wohnung über der alten Post im Hause Hummel. Eine Ligusterhecke trennte den Hof von dem damaligen evangelischen Gemeindehaus, in dem der Kindergarten untergebracht war und in dem die Gemeindeschwestern wohnten. Im Hof bei der Post schlich eine Katze umher. Ich wollte ihrer habhaft werden, um mit ihr zu spielen. Sie aber wollte unter Hecke und Zaun Ich erwischte sie gerade noch am Schwanz und versuchte, sie zurück zu hieven. Meine Mutter beobachtete den Vorgang vom Balkon aus und rief mir zu:

"Lesch des Ketzle geh! Wart nur, ich sags  ‚m Bolezeidiener!"

Ich ließ die Katze los, denn ich kannte den Polizeidiener schon und wußte, wofür dieser Mann zuständig war. Erst kürzlich war er mir von meiner Mutter auf der Straße beim Gang durchs Dorf gezeigt und waren mir seine Zuständigkeiten erklärt worden. Wie es der Zufall wollte: Am Nachmittag desselben Tages kam der Polizeidiener Harmann durch das Tor. Ich spielte gerade im Hof, und meine Mutter stand unter der Haustür. Sie erfaßte augenblicklich die Situation, knüpfte an den Vorfall vom Vormittag an und sagte: "Gell, Sie komme wege unserm Peter?“

Und dann hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben diesen eindringlichen, tiefen Brustton:

"Ja, wege dem kumm ich.“ Ich wußte nicht, wie mir geschah. Jedenfalls lief s mir warm die Beine hinunter, und dann stand ich in einer kleinen Pfütze. Der Polizeidiener mußte etwas mit dem lieben Gott zu tun haben. Wie sonst konnte er wissen, was am Morgen vorgefallen war?  

Spionage 

Im Krieg hatte Harmann besonders viel Arbeit. Längst war er kein Polizeidiener mehr. Jetzt nannte er sich Polizeiwachtmeister oder -oberwachtmeister. Das Land war voller Spione; da hieß es aufpassen! Meine Familie wohnte damals schon in der Schönauer Straße unmittelbar im Haus unterhalb der Kurve zum Schulbergweg. Ich hatte mein Zimmer unter dem Dach. Das Fenster lag zum Tal hin. Genau gegenüber über dem Fluß hinter dem Bahnhof beim Neckarschlösssel wohnte Heinz, ein Klassenkamerad. Wir beide studierten gerade das Morsealphabet. Schließlich wollten wir es auch üben. Wir machten aus, uns nachts über den Neckar hinweg zu verständigen. In Ermangelung eines Morsegeräts nahmen wir unsere Nachttischlampen. Den Drücker benutzten wir als Morsetaste. Das funktionierte prima. An mehreren Abenden hintereinander übten wir nach Einbruch der Dunkelheit unser neues Alphabet. Und wie das klappte! Doch ich staunte nicht schlecht, als eines Tages der Harmann vor der Haustür stand und allen Ernstes unter dem Dach des Hauses die Funkstation eines feindlichen Agenten vermutete. Es war eben seine Aufgabe, die Augen offen zu halten und in seinem Dienstbezirk nach dem Rechten zu sehen. Der Verdacht war ausgeräumt, doch die Angst vor Saboteuren und Agenten blieb.

Die Bombe

Auch wurde immer wieder nach entflohenen Kriegsgefangenen oder abgeschossenen Piloten feindlicher Bomberflugzeuge gefahndet.

Eines Nachts war im Wald zwischen Schönau und Heddesbach bei der Wolfsgrube eine viermotorige amerikanische Maschine abgestürzt. Zuvor hatte sie im Notwurf ihre Bomben geworfen, die ziellos irgendwo im Gelände niedergegangen und explodiert waren. Noch kann man gelegentlich in den Wäldern Bombentrichter sehen, die auf diese Weise entstanden und inzwischen natürlich längst überwachsen sind. Wir Buben hatten schon auf dem Heimweg von der Schule von diesem Flugzeugabsturz gehört. Gleich nach dem Mittagessen machten wir uns über das Münchel auf den Weg nach Schönau und von da über das "Bäckermädel " zur Absturzstelle. Weiträumig war die Stelle abgesperrt. Das hinderte uns aber nicht, unter der Absperrung hindurchzukriechen und die mächtigen Trümmerteile aus der Nähe zu betrachten. Jeder nahm sich ein kleines Erinnerungsstück mit. Ich weiß, daß ich einen MG—Gurt von diesem Unternehmen mit nach Hause brachte, der bis zum Kriegsende unter anderen kriegerischen Symbolen an einer Wand meines Zimmers prangte.

Diese Einschiebung möge den Hintergrund dessen erhellen und ergänzen, was nun folgt:

Zu jener Zeit wurde auf dem Rathaus ein Blindgänger gemeldet. Ich war mir fast sicher, daß diese Bombe vom Notwurf dieses Flugzeugs vor dessen Absturz stammte. Die Fundstelle lag jedenfalls im Wald auf der Höhe von Peterstal. Dieser Blindgänger stellte eine öffentliche Gefahr dar, die beseitigt werden mußte. Es wurde ein Trupp Gemeindearbeiter abgestellt, die den Blindgänger bergen sollte.

Das Kommando lag bei Polizeioberwachtmeister Harmann. Die große, schwere Bombe wurde geborgen und auf ein Ziehwägelchen verfrachtet. Der Bergungstrupp bewegte sich, begleitet von Schaulustigen, von Peterstal durch "die" Steinbach ins Dorf. Polizeioberwachtmeister Harmann sicherte diesen außergewöhnlichen und gefährlichen militärischen Transport. Er trug - wohl aus Furcht vor einem Sabotageakt als auch um die Bedeutung dieses Ereignisses zu unterstreichen - einen Karabiner. Den hatte er stramm geschultert. Man konnte ja nicht wissen! - Und: Sicher ist sicher!

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Beim Rathaus angekommen, wurde der Blindgänger zunächst mal in der seitlichen Durchfahrt zum Rathaushof abgestellt. Die neugierigen Gaffer hatten sich längst verlaufen. Auf dem Rathaus war schon Dienstschluß, als geschah, was geschehen mußte: Die Bombe ging hoch, und das Rathaus und die Häuser in der Nachbarschaft erzitterten in ihren Grundfesten. Doch niemand kam zu Schaden. Nur Fensterscheiben gingen zu Bruch. So soll 's sich zugetragen haben, so oder so ähnlich haben sich 's die Leute erzählt, und so schreib' ich 's nieder. Gelegentlich gab 's halt auch mal Krieg was zu lachen. Dem verantwortungsbewußten Polizeioberwachtmeister Wilhelm Harmann aber sei mit diesen Zeilen ein kleines Denkmal gesetzt. Wie kaum ein anderer Ziegelhäuser ist er in unser aller Erinnerung lebendig. Allein die Nennung seines Namens entlockt uns, die wir ihn gekannt haben,

schon ein Schmunzeln. In schwerster Zeit hat er aus seinem schweren Amt das Beste gemacht, oft Schlimmeres verhütet und durch sein originelles Wesen Humor und Heiterkeit verbreitet. Dafür sei er noch heute herzlichst bedankt.

Wenn wir aber die Geschichten, die wir von ihm erzählen, mit Übertreibungen würzen, wenn sich mehr und mehr in den wenn sich Anekdoten Dichtung mit Wahrheit mischt, schließlich um seine Person gar Legenden ranken, so wird er uns dies sicher verzeihen. Ledig seines strengen Dienstes höre ich ihn mit leicht erhobener Hand mild und leise flüstern: "Ihr sollt ma awa net iwwadreiwe! "

Der Ordnungshüter

Und zum Schluß noch eine Begebenheit, die sich eines Tages im Krieg, geraume Zeit nach Einbruch der Dunkelheit - zu  nächtlicher Stunde also – an der „Drehscheib“ abspielte.

Eine Gruppe von Buben hielt sich vor dem alten katholischen Pfarrhaus auf. Aus der Hauptstraße kam gemächlich ein Radfahrer gefahren. Das Fahrrad war vorschriftsmäßig abgedunkelt: Nur ein Sehschlitz nach vorne, das war Pflicht für jeden, aber ein jeweils seitliches Punktlicht verriet den Ordnungshüter Harmann. Das wachsame Auge eines Jungen hatte ihn an dieser Spezialbeleuchtung erkannt, als er beim Lamm in die Drehscheibe abbog. Kurz rief er in die Gruppe: "Arsch weg, da Harmann kummt ! " Doch bevor sich die Gruppe in der Häusernische zwischen Pfarrhaus und der "Fuchsewirtschaft " verdrücken konnte, gellte es aus der Dunkelheit: Ihr braucht eiern Arsch net weg due, da Harmann is schunn do! "

 

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Ein besonderes Auge warf Harmann imner auf die Radfahrer. Selbst seine Frau hätte er ums Haar erwischt, als sie bei Dunkelheit ohne Licht, aus der Neckarhelle kommend, ins Dorf fuhr. Entweder war die Batterie ihrer Fahrradlampe ausgebrannt oder der Dynamo war kaputt. Jedenfalls hielt sie ein Mann an und sagte zu ihr: "Fraa, steige se ab, do vorne steht da Harmann! " Ganz sicher hätte die unbestechliche Amtsperson Harmann seine Frau nicht begünstigt, sondern auch ihr ein Protokoll verpaßt, wäre sie in seine Kontrolle geraten, auch wenn der Strafzettel letztendlich auf seine eigenen Kosten gegangen wäre.

10 Tage Knast

Ein weiteres Ereignis entbehrt nicht der Komik und einer gewissen Ironie. Harmann selbst mußte -im Laufe seiner Dienstzeit -es muß schon im Krieg gewesen sein-im Gefängnis in Landau einsitzen. Das kam so: Des nachts, zu einem Zeitpunkt, zu dem damals niemand mehr etwas auf der Straße verloren hatte, fuhr Harmann, von Peterstal kommend, ohne Licht durch „die Steinbach“ Richtung Dorf. Er soll es richtig schön laufen gelassen haben, als ihm ein Fußgänger in die Quere kam, den er regelrecht über den Haufen fuhr. Zu allem Unglück war dieser Mann ein altes Parteimitglied mit goldenem Parteiabzeichen. Er brachte Harmann zur Anzeige, und der Vorgang landete vor einem SS—Gericht, das Harmann zu zehn Tagen Haft verurteilte. Man amüsierte  sich rechts und links des Rheins, daß ein Polizist, ein Ordnungshüter, im Gefängnis landete. Dies soll allerdings vergnüglich gewesen sein, und ohne Folgen für den weiteren Dienst. Der Gefangene hat sich zusammen mit Vollzugsbeamten der Haftanstalt Landau zehn Tage lang beim Kartenspiel die Zeit vertrieben.

Mit vollem Körpereinsatz

Es war 1933 kurz vor der "Machtergreifung" und ereignete sich vor dem "Gasthaus zur Pfalz ".

Der Arbeitergesangverein hatte gerade seine abendliche Singstunde beendet. Ein SA—Mann belästigte die Passanten. In seinem betrunkenen Zustand forderte er sie auf, ihn mit "Heil Hitler! " zu grüßen. Das kam dem Harmann zu Ohren. Der stellte den Mann zur Rede und sagte zu ihm streng und im Ton: "Loß ' die Leit in Ruh! " Doch zurück auf dem Rathaus, wurde ihm erneut angezeigt, daß jener Nazi seiner Mahnung nicht Folge leistete. Harmann begab sich erneut an den Ort des Geschehens. Der Mann widersetzte sich tätlich der polizeilichen Autorität, und es kam zu einem regelrechten Ringen zwischen beiden. Harmann drückte den Mann gegen die Hauswand und landete schließlich mit ihm in der Wasserrinne des Moselbrunnenwegs. Inzwischen hatten einige Männer den Polizeiaspiranten Hufnagel, genannt Ille, herbeigeholt; der hatte schon im Bett gelegen. Es bedurfte der physischen Kraft beider, den betrunkenen Randalierer zu bändigen und ihn auf ein Ziehwägelchen zu verfrachten. Harmann spannte sich davor, und Ille hielt den Mann mit seinem Gummiknüppel nieder. So gelang es den beiden schließlich, ihn zur Ausnüchterung ins "Kaschorle ", in die Arrestzelle im Keller des Rathauses, zu "überführen ". Dieser Vorgang war der unmittelbare Anlaß, daß bei der Machtübernahme auch der Rathäuser durch die Nazis Harmann aus dem Dienst entlassen wurde. Doch der Nachfolger von Bürgermeister Bollschweiler, Karl Odenwälder , war es nicht möglich, für ihn einen Ersatz zu finden. Schließlich gelangte man auf dem Rathaus zu der Uberzeugung, Harmann habe damals nur für Ordnung gesorgt, und so kam es, daß er wieder in sein Amt eingesetzt wurde.

Machtwort in der Neckarhelle

Nach '33 wurden die bestehenden Vereine verboten bzw. in nationalsozialistische Gliederungen überführt. Verbotswidrig tagte aber der Schützenverein immer noch. Diese Tatsache kam höheren Orts zur Anzeige, und Harmann bekam den Auftrag, der Sache nachzugehen. Seine Vorgesetzten aber hatten keine Ahnung, daß er selbst immer noch Schriftführer in diesem Verein war. Ähnlich verhielt es sich mit dem "Klub der Harmlosen“, dem Männer angehörten, die aus der SPD kamen. Harmann selbst sympathisierte mit Mitgliedern dieses Vereins und konnte die Vereinsführung vor einem bevorstehenden Zugriff durch die Politische Führung von damals warnen. Überall in Deutschland, so gab es auch in Ziegelhausen 1933 eingefleischte Sozialdemokraten, denen der Machtwechsel sehr hart ankam. Sie standen auch unter besonderer Beobachtung. Einer von ihnen -er wohnte in der Neckarhelle - beflaggte sein Haus an einem hellen Werktag mit der Hakenkreuzfahne. Die  Parteigenossen der NSDAP glaubten an alles andere als an einen Gesinnungswandel des Hausbesitzers und empfanden diese Beflaggung als Provokation. Sie erstatteten Anzeige bei der Polizei, und es fiel in die Zuständigkeit von Harmann, diesen Fall zu klären. Er nahm Ille als Zeugen mit. In dessen Gegenwart fragte er den SPD-Genossen, wieso er dazu käme, ohne Grund die Hakenkreuzfahne herauszuhängen. Der Mann meinte, für ihn gäbe es wohl einen Anlaß, sein Haus zu beflaggen. Seine Frau habe ihm gestern nach zwei Töchtern endlich einen Sohn geboren, und das sei für ihn Grund genug, die Fahne zu hissen. Harmanns knapper Bescheid lautete: "Die Fahn, die bleibt ! " Damit war der Fall erledigt.

Wilhelm Harmann (fast) privat

Das Lesen der beiden Töchter Monika und Margret nach dem Zubettgehen beim Schein der Nachttischlampe verriet ihm beim Blick hoch über die Treppe der Türschlitz am Fußboden. Die strenggütige Ermahnung, nun endlich das Licht auszumachen und zu schlafen, wurde umgangen. Margret Jas bis zum Einschlafen unter der Bettdecke weiter. Das Frühstück am Morgen besorgte häufig der Vater.

Monika verlangte vom Vater mal eine Zigarette. Sie wollte es ihm gleichtun mit dem Rauchen. Der Vater war über das Ansinnen seiner Tochter baß erstaunt, schaute wohl sehr streng und "wuzelte" (drehte) eine Zigarette extra für Monika. Die mußte nun dieselbe im Angesichte des Vaters paffen. Der war über ihr Können so erstaunt, er sagte: "Du derfsch, du konnsch' s!"

Nach Feierabend durften die beiden Mädchen dem Vater gelegentlich auf den Knien sitzen, die eine rechts, die andere links. Das war dann die Stunde, bei der Vater Harmann sich Zeit nahm, seinen Töchtern einmal in besonderer Weise seine Zuneigung zu schenken. Nur Monika, die ältere von beiden, schien ihm immer häufiger zu schwer zu sein. Es stellte sich aber heraus, daß das schmerzende Knie von einer früheren Verletzung (oder Verwundung aus dem Krieg?) herrührte.

Die Güte von Wilhelm Harmann erwies sich auch außerhalb der Familie. Als seine "Pfarrei " bezeichnete er Kreise seiner Familie gelegentlich gerne die Siedlung oberhalb des Friedhofs. Auf seinem Weg durch dieselbe rief ihm eine Frau einmal aus dem Fenster zu: "Du, Harmann, kumm emol ruff! " Der Harmann kam dieser Aufforderung nach und war völlig überrascht, als er das Anliegen dieser Frau erfuhr. Während er die zu groß brennende Carbidlampe klein stellte, wohl weil er um den Bestand des mit viel Holz gebauten Hauses fürchtete, forderte Frau Stadler ihn auf, die sieben Nähnadeln einzufädeln, die zusammen mit sieben Fäden auf dem Tisch bereitgelegt waren. Die ganze Zeit schon würde sie auf jemanden warten, sagte sie, der vorbeikäme, den sie auffordern könne, ihr das Einfädeln zu besorgen, da ihr Augenlicht schon so nachgelassen habe.

Ohne Widerspruch gewährte der Polizeidiener der alten Frau diesen Hilfsdienst. Mit manch einer Mark hat Harmann manch einem Bedürftigen aus der Siedlung unter die Arme gegriffen. Das wußte Monika von ihrem Vater, und Rudolf Fritz erzählte dies beim Klassentreffen auch, unabhängig von Monika.

Wilhelm Harmann - der Helfer? [von Klaus Fanz]

Das NSDAP-Mitglied und der Beamte Wilhelm Harmann musste sich 1946 einem Spruchkammerverfahren unterziehen. Man warf ihm vor, bei Hausdurchsuchungen nicht zimperlich gewesen zu sein und in der Bevölkerung für die Mitgliedschaft in der Waffen-SS geworben zu haben vor dem Hintergrund, dass damit mancher Fehltritt egalisiert würde. Größer jedoch war die Zahl seiner Beistände vom katholischen Pfarramt über seinen ehemaligen Chef beim Reichsbanner "Schwarz-Rot-Gold" bis zu den Klosteroberen, die ihm Menschlichkeit im Amt attestierten.
Überliefert ist die Erklärung von Wilhelm Ehrenfried aus Peterstal: Harmann habe bei einer Untersuchung Nachsicht walten lassen und ihn damit vor Bösem bewahrt.
Sein Wort galt auf dem Rathaus, wenn er z.B. –wie in diesem Fall – sagte:“Vun dem loßd’a awa die Finga!“

SA – Leute ärgerte es, daß Harmann immer auch in Uniform zur Kirche ging.
Hinzu kam, dass die Familie Harmann der unweit gelegenen katholischen Kirche immer treu blieb. Das kam seinen Vorgesetzten zu Ohren. Sie stellten ihn deshalb zur Rede. Harmann’s Antwort: „Ich bin und bleib imma Polizischt! Und deshalb wird ich die Uniform aach net ausziehe, wenn ich die Kerch geh!“

Die Spruchkammer bescheinigte ihm Mitläufertum. Die "Weihnachtsamnestie" beendete am 15.2.1947 weitere Verfahren.

Der Flugzeugabsturz

Auf der Schlierbacher Seite war im Krieg ein Flugzeug abgestürzt, das war durch die Flak oder im Luftkampf abgeschossen worden. Die "Bleelumbe " voller Neugier und strömten über die Brücke, um zu sehen, was zu sehen war. Der Harmann ließ diesen  Strom von "Wallfahrern" auf der Brücke, gemächlichen Schrittes sein Rad schiebend und dieses Volksaufkommen kopfschüttelnd bestaunend, an sich vorüberziehen und gab folgenden Kommentar: "Ma meend grad, do driwwe ded 's Manna regne! "

Und zu dem Ereignis an sich: "Na runna mit dem Zeig! " Dabei wußte er natürlich noch nicht, daß ein deutscher Nachtjäger niedergegangen war.

Derbe Polizistensprache

Gelegentlich schon recht derbe Ausdrucksweise des Ordnungshüters. Die Bubenversammlungen rund um die "Drehscheib " paßten ihm einfach nicht, ja sie waren ihm zutiefst verhaßt. Da konnte es schon sein, daß er bei einer Begegnung diesen "Dreiachtelsfiguren " wie er sie gelegentlich zu Hause verächtlich zu nennen pflegte, sie waren für ihn weniger als "halbe Portionen, überkochte, wenn er z.B. einen "Nichtechzehnährigen" beim Rauchen erwischte. Ein solcher bekam mal zu hören: "Du dedsch besser homgehe, un doiner Mudda ins Nehkärwel zu …. statt dich do rumzudrigge un Zigaredde zu blodze !

Einmal traf er einen " Nichtechzehnährigen" in einer Wirtschaft am Stammtisch an. Der wollte ihm klarmachen, daß er zwar noch nicht sechzehn sei, aber in wenigen Tagen werden würde. Der Harmann begann zu philosophieren: "Weesch du, ob du iwwahaubt sechzehne wersch? Des weesch du so wennisch, wie en Fallschirmspringer wees , ob er lebend unne okummt ! " Die Tatsache, daß der Harmann sich auf eine Diskussion einließ, läßt schon allein darauf schließen, daß der Junge seinen Stuhl nicht räumen, die Wirtschaft nicht verlassen mußte. Erwischte er einen, den er nicht kannte, bei einer Untat, obgleich dieser zu flüchten versuchte, so rief er diesen an: "Halt! Isch kenn disch doch! Wie heesch 'n du?"

Die Besucher jugendverbotener Filmveranstaltungen in der Rose wurden von ihm immer wieder gewissenhaft auf ihr Alter hin kontrolliert. Stand der Harmann schon gleich an der Kasse oder auch nur an der Eingangstür oder auf der Straße, so wußten alle Minderjährigen, daß sie keine Chance hatten und machten freiwillig kehrt. Aber einmal war es einer solchen Gruppe doch gelungen, unbemerkt im Saal der Rose, dem Vorführraum, Platz zu nehmen. Kurz vor Beginn der Filmaufführung erschien der Harmann, stellte sich vor die Sitzreihen, sortierte die Minderjährigen aus und schickte sie nach Hause . Unter denen war auch Monika, seine Tochter.

Sie traute sich nie mehr (in Ziegelhausen ! ) einen jugendverbotenen Film zu besuchen.

Holz vorm Haus [von Klaus Fanz]

Doch die Dorfjugend rächte sich. Harmann machte es sich zu seiner Pflicht, darüber zu wachen, dass Sperrstunden eingehalten wurden und auch, dass Jugendliche nach Veranstaltungsende direkt und zügig nach Hause gingen und ermahnte sie dementsprechend fein oder grob. Donnerstag abends fand Turnertraining für Jugendliche im Saal des "Steinbacher Tals" statt. Nach Trainingsende stand Wilhelm Harmann schon draußen auf der Peterstaler Straße und schaute nach dem Rechten. Vielleicht hatte sich im Laufe der Zeit schon einiges aufgestaut, jedenfalls gingen die behenden Jugendsportler in die Offensive. Unverdächtig nach Norden gehend, bogen sie am Meschgraben rennend ab und über Schleifengrund, Bächenbuckel, Friedhof und Friedhofweg erreichten sie das Wohnhaus der Harmann's in der Schönauer Straße. Viele Arme und Hände setzten eine Menge gestapelten Brennholzes um - direkt vor die Eingangstür und waren genauso schnell wieder verschwunden. Wilhelm Harmann soll bis tief in die Nacht das Holz wieder zurückgesetzt haben. Die Identität der Übeltäter aber konnte er nur vermuten.

Die Amerikaner

Für die Amerikaner war Wilhelm Harmann nach bei Kriegsende zunächst unentbehrlich. Jemand mußte in dieser gesetzlosen Zeit doch wenigstens versuchen, halbwegs für Ordnung zu sorgen. Nachdem er seine Waffen abgeliefert und die Hoheitsabzeichen seiner Uniform abgelegt hatte, kennzeichnete man ihn mit einer weißen Armbinde als Hilfspolizisten der amerikanischen Militärpolizei. Es war die Zeit, in der geplündert wurde. Ohne Waffe fühlte sich Harmann solchem Treiben gegenüber fast machtlos. Die Militärpolizei duldete, daß er einen Gummiknüppel trug, den ihm ein Freund aus einem dicken, schwarzen Gummikabel gefertigt hatte. Außerdem mag ihm auch bei diesem Dienst wiederum sein angeborenes Imponiertalent geholfen haben.

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Doch wenige Wochen nach Kriegsende erfolgte seine Entlassung durch die Militärregierung. Sie ist in unwürdiger Weise auf dem Rathaus in Heidelberg erfolgt. Man hat ihn buchstäblich mit einem Tritt ins Hinterteil verabschiedet.

Harmann arbeitete dann bis 1947 in seinem in erlernten Beruf als Glaser in einem Zimmergeschäft.

Bei der Entnazifizierung haben ihn viele Mitbürger entlastet. Doch erst aufgrund einer Amnestie, unter die er fiel, konnte er in den Polizeidienst des Landes Württemberg—Baden eingestellt werden. Er mußte seine Laufbahn als Polizeibeamter von vorne beginnen. Dienst tat er von nun an in Neckargemünd, wo er sich auch nach kurzer Zeit schon das Vertrauen der Bevölkerung erwarb. 1956 wurde er als Polizeimeister in den Ruhestand verabschiedet, den er im Kreise seiner Familie in Ziegelhausen in seinem Haus in Schönauer Straße verbrachte.

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